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Wer kommt? Wer geht? Wer bleibt?

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Eine Studie zur Verbesserung der Verbleibchancen qualifizierter Frauen im Landkreis Görlitz

19 Siehe z. B. die neue

19 Siehe z. B. die neue Website http://goerlitz.de/ Tourismus.html. wie Männer, die ihren Arbeitsort, Einkaufsgelegenheiten und den Kindergarten mit dem ÖPNV erreichen wollen, ziehen vor dem Hintergrund der Nahverkehrsanbindungen eher nicht aufs Land, selbst wenn sie wollten. Für den Faktor Freizeit ist der Landkreis bemüht, vorhandene Angebote besser zu kommunizieren. 19 Was städtische oder eben auch ländliche Strukturen anbieten können oder welche unberücksichtigten Bedarfe vorhanden sind, sollte eine entsprechend angelegte Studie detailliert untersuchen. Wer in der Region aufgewachsen ist, wie drei Interviewpartnerinnen und die Gruppe derjenigen Qualifizierten, die in der Fokusgruppe untersucht wurden, verweist auf die Erfahrung von Immobilität in der Kindheit mit den anknüpfenden Schwierigkeiten, Freundschaftsbezieh ungen aufzubauen. Gerade auf den Dörfern und den entlegeneren Schulstandorten fehlte es an verbindendem Nahverkehr zwischen den verstreuten sozialen Bezugspunkten. Wenn nicht privat Abhilfe geleistet werden konnte, lagen Freundschaften am Nachmittag und an den Wochen enden brach, weil im Zeitalter der analogen Kommunikation Distanzen nicht ohne weiteres überwunden werden konnten. Erst mit dem Erwerb des Führerscheins nahm diese soziale Abkopplung ab. Die digitalen Medien lösen indes das Kommunikationsproblem nicht auf. Vorstellbar ist, dass sie es sogar noch verschärfen: Wir können zwar chatten, aber uns nicht treffen. Der aktive Rückzug aus den sozial verdichteten Netzwerken und Alltagswelten der Großstädte ist für einige junge Menschen eine zentrale Motivation, gezielt in die Dörfer zurückzukehren bzw. zu ziehen. Hochfrequentierte Freizeitangebote sind ihnen weniger wichtig. Sie bewegen sich mit dem Auto durch die Weiten des Land ­ kreises oder stimmen ihren Lebensrhythmus auf den ÖPNV ab. Sie nutzen punktuell die kulturelle Infra struktur der Mittelstädte in Görlitz, Weißwasser oder Zittau. Für wen vielfältigere Angebote oder das Engagement in kulturellen Initiativen wichtig sind, lebt im vergleichsweise urbanen Görlitz oder nimmt Fahrtwege im ländlichen Norden und Westen des Landkreises in Kauf. Für einige sind die längeren Anfahrten bereits aus dem Leben in Großstädten bekannt und werden nicht als Hindernis wahrgenommen. Wer allerdings mit dem ÖPNV im Landkreis unterwegs sein will oder muss, hat sich auf Einschränkungen einzustellen. Mobilität jenseits des (automobilen) Individualverkehrs ist insbesondere für weibliche Akteure im Landkreis relevant. In allen untersuchten Altersklassen ist die Mobilitätsfrage eine geschlechterdifferenzierte. Dieses Ergebnis wird in der Forschungsliteratur auch für andere Regionen bestätigt (z. B. BBR 2007). Wer im Landkreis nicht mobil sein kann, riskiert soziale Isolation und sieht sich gezwungenermaßen von Möglichkeiten der Berufsausübung und der sozialen Teilhabe ausgeschlossen. Schon die Suche nach einem Ausbildungsplatz kann durch geschlechterspezifische Mobilitätswünsche in der Region eingeschränkt sein. Die strukturellen Nachteile der Branchenstruktur werden durch infrastrukturelle Engpässe im ÖPNV weiter verschärft. In einem Landkreis, in dem durch die periphere Lage Ausbildungsort, Berufsschule sowie der Wohnort schnell etliche Kilometer getrennt voneinander sind, sollte den Fragen der Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln nachgegangen werden, da es sich hier für einige Zielgruppen um einen Abwanderungsfaktor handelt. 3.3.5 Sogwirkung der Städte oder Attraktivität des Landlebens? Die Präferenz für das Leben in der Großstadt bleibt auch nach Kontrolle aller anderen Faktoren ein signifikanter Abwanderungsfaktor. Das Leben in der Großstadt ist also mehr als nur eine Reaktion auf Defizite des Landlebens. Unbeobachtete Faktoren wie dichte Peer-Netze in den Städten, metropolitaner Lebensstil oder Großstadtflair sind selbst wirkungsvolle Attraktionen, insbesondere durch die Ausdünnung jüngerer Kohorten (empirica 2016; Slupina et al. 2016). Allerdings gilt das zunächst nur für eine gewisse Lebensphase. Als dauerhaften Lebensort präferieren die Befragten mehrheitlich Mittel- und Kleinstädte: Um die 60 Prozent der Schülerinnen wie der Studentinnen wünschen sich für ihre Zukunft ein Leben fern der Großstadt. Ein Viertel der männlichen Studierenden bevorzugt sogar das Dorf. Auch wer den Wunsch nach einem Leben in der Mittelstadt äußert, bringt eine höhere Abwanderungsneigung mit. Aber welche Erfahrung mit dem Leben auf dem Dorf oder in der Stadt die Bindungskräfte strukturieren, kann hier nicht genau bestimmt werden. Der Zusammenhang besteht aber: Je kleiner der präferierte Siedlungsraum (z. B. Dorf) ist, desto geringer fällt die Abwanderungsneigung aus (vgl. Vogelsang 2013). Welche kultur- oder industriehistorischen Pfade möglicherweise Identität und Bindungen stiften, während andere gerade gegenteilig Abgrenzungen und soziale Distanz produzieren, wäre eine Untersuchung wert. Die Präferenzen sind also durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Was für die (Aus-)Bildungsphase als wichtige Standortfaktoren Bedeutung hat (Universität oder auch Kultur/Freizeit), kann in anderen Lebensphasen an Wichtigkeit verlieren (vgl. Kapitel 5.2). Ein Faktor, dem zunächst keine Bedeutung beigemessen wurde, kann im Lebensverlauf relevant werden (Kita/Schule oder auch Landschaft/Natur). Ebenso sind städtische Qualitäten von Heterogenität, Größe und Dichte nicht für alle gleichermaßen lebenswert. In den Interviews mit den qualifizierten Frauen wurde das kleinteilige, übersichtliche und gemeinschaftliche Leben im Kontrast zur Großstadt als Rückkehr- und Zuzugsgrund betont. Allerdings werden die oftmals romantisierten Vorzüge des Land- und Kleinstadtlebens durch die Lebenspraxis korrigiert. Erlebt wird dann eine Diskrepanz zwischen Gestaltungschancen und tatsächlicher Wirksamkeit. Oftmals verhindert soziale Kontrolle und räumliche Nähe, individuellen Entfaltungswünschen nachzugehen. Auf die Frage, wo sich die Frauen wohl fühlen, fallen die Antworten unterschiedlich aus – oft mit Verweis auf ihr Großstadtleben: „Wenn ich hier Zuhause bin und die Tür zu machen und in meinem Garten rummuddeln kann und die Sachen so mache wie ich sie will und dann auch mal meine Ruhe habe. (…) Wenn du jetzt hier bist, fällt es dir gar nicht so dolle auf, aber wenn du dann mal raus bist aus diesem kleinen Örtchen hier, da wird einem schon so bewusst, also da habe ich mir schon die Frage gestellt, ob ich nicht auch so ein bisschen Leben verpasse. Wenn man es dann immer hat, also damals in Stadt A hatte es mir dann auch nicht mehr gefallen dieser ständige Großstadtstress einfach. Für mich ist es, glaube ich, die Mischung, die es macht. Schade ist, dass wir hier so sehr weit weg von einer Großstadt sind.“ (Katharina südlicher LK) „Im Moment fühle ich mich am wohlsten, wenn ich wegfahre, weg von hier. Da kann ich abschalten. Jetzt fahre ich nämlich gerne wieder nach Großstadt B. Da war ich jetzt wieder zwei Tage. Und das ist wie eine Woche Urlaub. Da bin ich weg und da kann ich dann hier wirklich mal abschalten von allem Drumherum.“ (Nancy, nördlicher LK) „Speziell hier in Dorf XY, irgendwie hat das von Anfang an so gepasst. Als ich zum ersten Mal hierhingekommen bin, Mensch, das ist so eine ganz schöne heimelige Atmosphäre. Mit der Neiße-Aue, das Wehr und so. Das gefällt mir einfach gut. Ich fühl mich wohl. Die Galloways. (lacht) Ja, die haben auch sehr viel beigetragen.“ (Nora, mittlerer LK) Nora, die erst seit Kurzem wieder im Landkreis lebt und noch zwischen elterlichem Herkunftsdorf und Wunschdorf im Norden tingelt, betont die landschaftlichen Vorzüge und die „heimelige Atmosphäre“. Nancy, die ebenfalls vor einigen Jahren die Fülle der Großstadt hinter sich ließ und in der Nähe von Familie und Partnerschaft ihren Wunsch nach Gemeinschaft, Naturnähe und kleinteiliger Landwirtschaft umsetzen wollte, ist mittlerweile desillusioniert. Sie sucht wieder die Großstadt, um Abstand vom dörflichen Leben zu nehmen. Ähnlich ergeht es Katharina. Sie kehrte vor 10 Jahren in die Heimatregion zurück und hat mittlerweile zwei Kinder. Die differenten Erfahrungsräume, die den städtischen und ländlichen Lebenswelten zugeschrieben werden, lassen sich nicht ohne weiteres verbinden. Die Schwierigkeiten, in urbanen Kontexten die sozialen Milieus zu finden, die passen, lösen sich in ländlichen Regionen nicht auf. Das aktive Engagement und die Entwicklung beruflicher Perspektiven im Landkreis, wird als „Kraftakt“ und die Vorstellung des „dörflichen Miteinanders“ als oftmals trügerisch erfahren. „Mir wurde so richtig die Illusion genommen, dass man hier groß was reißen kann. Neulich stand in der Zeitung, dass der Bürgermeister (aus einer Stadt im Landkreis) das ‚Projekt Oberlausitz‘ vorantreiben will. Wenn die das wirklich wollen, dann müssen die erstmal miteinander arbeiten und miteinander auskommen und nicht übereinander herfallen und einer dem anderen nichts gönnen.“ (Nancy, nördlicher LK) Schlussendlich erleben diese Frauen Formen sozialer Marginalisierung in der Region. Sie entwickeln Strategien des Rückzugs und suchen in der Distanzierung Bereiche, in denen sie ihre Autonomie erweitern können. Durch berufliche und private Grenzziehungen kreieren sie Räume der Unabhängigkeit: „Und jetzt mach ich das mal, jetzt fang ich mal im Kleinen an und habe es selbst in die Hand genommen. Und meine ersten Workshops zu machen, um so auch mehr Beachtung zu finden, in der Gemeinde, wo ich mich auch in Zukunft einklinken möchte. Jetzt nicht primär als Technikerin, sondern auch als jemand, der was bewegen möchte.“ (Lisa, westlicher LK) Ihre Eigeninitiative soll sowohl ihre partizipativen Möglichkeiten erhöhen, als auch vor äußeren Eingriffen schützen. Zum Beispiel dort, wo sie mit angeheirateten oder eigenen Familienmitgliedern Wohnraum teilen: „… und deshalb haben wir auch keine richtige Klinke, sondern es ist immer abgeschlossen, da habe ich meine Ruhe.“ (Nancy, nördlicher LK) Das Spannungsfeld zwischen ländlichen und (groß-)städtischen Qualitäten wird von den Akteurinnen reflektiert und als ambivalent erfahren. Das einstige Rückzugsmotiv von Rück- und Zuwanderung in den ländlichen Raum differenziert sich in den Verbleibstrategien aus. 22 23

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